Rufen Sie uns an: 0170 / 38 91 281
Wir beraten Sie gerne!

Auf dem Weg vom Sein zum Bewusst-Sein

 

Lernen und die Chance, Mensch zu sein

Seit Menschengedenken stellt sich die Frage:
Was macht den Menschen eigentlich zum Menschen?

Und ebenso häufig wird die Frage beantwortet: Wir Menschen sind von unserem Verhalten nicht determiniert. Wir können frei entscheiden. Und das nicht zuletzt deshalb, weil wir uns unserer selbst bewusst sind.

Wir möchten diese These – zumindest weitgehend – in Frage stellen und weitere Fragen aufwerfen, wie zum Beispiel: Wie viel von unserem Verhalten beruht tatsächlich auf freien Entscheidungen? Leben wir nicht vorwiegend nach Automatismen, die sich tief in uns eingegraben haben? Wie viele dieser Verhaltensprogramme sind uns eigentlich bewusst? Und: Ist ein kreativer Gedanke gerade mal das Aufleuchten einer Sternschnuppe am Nachthimmel unseres Seins?

Was vielleicht Hoffnung macht und uns Menschen doch noch die Rechtfertigung liefert, uns grundsätzlich von den Tieren zu unterscheiden, ist die Tatsache, dass wir zu lernen imstande sind. Immer dann, wenn wir lernen – und vor allem im Moment des Begreifens – regnet es Sternschnuppen. Und unser Sein wird zu Bewusst-Sein. Im Moment des Lernens haben wir die Chance ganz unmittelbar zu begreifen, wer wir sind.

Lernen ist ein zutiefst physiologischer Vorgang. Er hat mit unseren Sinnen zu tun, deren Aktivität das Innenleben unseres Nervensystems belebt. Lernen ist wohl das beste Anti-Aging, das es gibt. Lernen bedeutet weiterhin, kreativ zu sein. Es heißt aber auch: Bekanntes Terrain zu verlassen und sich der Unsicherheit des Neuen, Unbekannten zu stellen. Lebenslanges Lernen ist ein netter Slogan, aber den Mut dafür aufzubringen etwas ganz anderes. Lassen Sie sich also beim Lesen auf die Herausforderung des Neuen ein, lassen Sie sich verunsichern und zugleich inspirieren von neuen Gedanken-Pfaden. Und fühlen Sie die Verwirrung, die jedem Lernprozess eigen ist.


Unsere Sinne – Tore zur Freiheit

Die Bewusstseinsforschung gründet sich auf Untersuchungen zum Feld der menschlichen Sinne, die schon vor über einem halben Jahrhundert gemacht wurden. Sie stützen sich auf Wissenschaftler wie Karl Kupfmüller (TH Darmstadt) und Dietrich Trincker (Uni Kiel). Sie schufen schon in der 50er / 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts einige bahnbrechende Forschungsgrundlagen, die die „Mechanik“ des Bewusstseins beschrieben. Sie gingen davon aus, dass ‚die Sinne die Fenster zu unserer Wirklichkeit‘ sind. Über die Sinne erhalten wir die Informationen, die wir brauchen, um uns zu orientieren und angemessen reagieren zu können.

 

Die Sinne: Breitband-Datenleitung zu unserer Kreativität

Kupfmüller und Trincker benutzten damals schon die Bezeichnung „Bit“ als kleinste Informations-einheit. Und es braucht es eine ganze Menge Bits, um ein vollständiges Bild entstehen zu lassen. Dementsprechend war klar, dass zum Beispiel das Auge – will es bildreife Daten an das Gehirn liefern – in der Lage sein muss, sehr viele Bits aufnehmen zu können.

Die Wissenschaftler fanden heraus, dass es neben Stäbchen und Zapfen auf der Netzhaut des Auges extrem komplex verschaltete Ganglienstrukturen gibt. Aus ihrem Zusammenspiel werden Signale so kodiert, dass sie in der Lage sind, 10 Millionen Bits pro Sekunde (!) aufzunehmen und zur Weiterverarbeitung zu verpacken. Die Weiterleitung läuft über starke Nervenbahnen ans Gehirn – vergleichbar mit Breitband-Datenleitungen. In Windeseile setzt der große Rechner in unserem Kopf die Dateneinheiten zu komplexen Bildern zusammen. Dasselbe geschieht auch mit den anderen Sinnesorganen. Diese sind – was ihre Daten Aufnahme Kapazität angeht – hierarchisch geordnet.

Dem Auge folgt als nächste informative Quelle die Haut mit 1 Mio. Bits/s. Dann kommen das Ohr
und der Geruchssinn mit jeweils 100000 Bits/s und weit abgeschlagen finden wir den Geschmacks-sinn mit 1000 Bits/s.

Zählen wir zusammen, kommen wir auf rund 11 Mio. Informationseinheiten, die unser Gehirn im Sekundentakt verarbeitet. Was in dieser Rechnung nicht berücksichtigt ist, sind die Informationen aus unserem Körperinneren, die uns der sog. ‚propriozeptive‘ oder ‚kinästhethische‘ Sinn liefert. Die Rezeptoren dieses Sinns sitzen in Muskeln, Gelenken, Sehnen und Organen und geben ständig Rückmeldung, was in unserem Körper passiert.

Selbst das uns einfach erscheinende Stehen ist eine komplexe Koordinationsleistung des gesamten Bewegungsapparats. Es gelingt nur dadurch, weil unser Gehirn in der Lage ist, aus den unzähligen Informationen das richtige Spannungsgefüge im Körper einzustellen. Ansonsten würden wir ständig damit kämpfen, nicht vorn- oder hinten über zu kippen. Die Arbeit dieses Sinnesorgans läuft vollkommen unbewusst ab. Es sei denn wir lernen etwas Neues. Wer zum ersten Mal versucht, sich auf einem gleitenden Snowboard zu halten, erlebt die Arbeitsleistung des propriozeptiven Systems am eigenen Leib mit.

Wir können vermuten, dass unser propriozeptiver Sinn unser zentrales Nervensystem noch einmal mit der gleichen Informationsmenge speist, wie es die ‚Außen-Sinne‘ tun. Das können Sie an folgendem Beispiel leicht nachvollziehen.

Sie bummeln an einem Samstagvormittag durch die Innenstadt. Sie unterhalten sich angeregt mit ihrer Freundin, weichen unmerklich aber geschickt anderen Einkaufswilligen aus, halten in der einen Hand eine Einkaufstasche und in der anderen einen Coffee-to-go, während Sie es zusätzlich schaffen auf irgendeine Weise Ihr Handy zu balancieren.

Genau in diesem Moment vollbringt Ihr Gehirn eine wahre Heldentat. Es verarbeitet sekündlich über Ihr gesamtes Sinnessystem schätzungsweise an die 20 Mio. Bits, um einen einfachen Akt wie diesen Einkaufsbummel genussvoll für Sie zu ermöglichen.


Bewusstsein – ein Boot auf dem Meer des Unbewussten

Doch unser Superrechner im Kopf kann noch viel mehr. Jede unserer  100 Mrd. (Milliarden!!) Nervenzellen unseres Zentralen Nervensystems hat die Möglichkeit, ca. 10.000 Verbindungen zu ihren Nachbarinnen herzustellen. Das führt zu einem ungeheuren und unvorstellbaren Potenzial von mehreren Millionen Milliarden Verbindungsmöglichkeiten. Würde diese Informationsflut unser Bewusstsein erreichen, wären wir innerhalb von Sekunden verrückt. Doch in unserem Bauplan ist eine Filterfunktion eingeplant. Sie lässt lediglich einen verschwindend kleinen Bruchteil dieser Informationen durch.

Die Informationsaufnahme durch die Sinne wird in der Pädagogik Perzeption genannt. Der Teil, der ins Bewusstsein dringt ist die Apperzeption. Eine erstaunlich große Kluft tut sich auf, wenn man die Zahlen vernimmt: Laut Kupfmüller und Trincker sind es höchstens 40 Bits/s, die bewusstseinsfähig sind.

Auf einen etwas populistisch anmutenden Nenner gebracht, hieße das, dass wir von einem Verhältnis von 1: 500.000 sprechen, wenn wir von bewusst gestaltetem Leben sprechen. Anders ausgedrückt:   Wir nehmen von der uns umgebenden Gesamtwirklichkeit höchstens jeden 500.000stel Teil bewusst wahr – und das auch nur, wenn wir vollkommen aufmerksam sind.


Eine Metapher mit Konsequenzen

Und damit nicht genug: Machen wir uns klar, dass unsere Sinne an sich auch beschränkt sind. Aus dem Spektrum der Schwingungen nehmen wir ja auch nur einen verschwindend kleinen Ausschnitt wahr. Man denke nur an Ultraschall und Infrarot-Strahlung, die außerhalb unserer Wahrnehmung liegen.

Nehmen wir folgendes anschauliches Bild: Die gesamte Wirklichkeit ist vergleichbar mit einer riesengroßen, dunklen Bühne, auf der wir agieren. Das Bewusstsein wäre dann der Scheinwerfer,
der den Lichtstrahl der Aufmerksamkeit aussendet. Mit diesem Lichtstrahl können wir einen winzig kleinen Ausschnitt  dieser Lebensbühne sichtbar werden lassen. Doch wenn wir glauben, dies sei die Wahrheit der Wirklichkeit, täuschen wir uns – es ist nur ein kleiner Teil davon. Und der Rest des Ganzen ist trotzdem da, in jedem Augenblick, auch wenn wir ihn nicht sehen.


Das Auge – dein Scheinwerfer

Wir laden Sie ein zu einem Experiment: Schließen Sie Ihre Augen. Wenden Sie Ihren Kopf irgendwo hin. Öffnen Sie Ihre Augen für einen Augen-Blick wie die Blende eines Fotoapparats. Schließen Sie Ihre Augen wieder und reflektieren Sie, was Sie gesehen haben.

Nach einer Weile beginnt Ihr Gehirn, das Bild zu rekonstruieren. Es verarbeitet die Sinnesreize auf seine ganz eigene Art. Und Sie werden vermutlich bemerken, dass Ihre Erinnerung an das Gesehene sehr begrenzt ist.

Um der Wirklichkeit näher zu kommen, müssten wir nun das Spiel mit der Blende mit ein und demselben Ausschnitt mehrfach hintereinander ausführen, um die Eigenleistung des Gehirns nach und nach an das wirklich Vorhandene anzupassen. Doch genau das tun wir im Alltag ganz selten. Vielmehr richten wir den Scheinwerfer unserer Aufmerksamkeit auf einen neuen Fokus. Dieser schelle Wechsel der Aufmerksamkeit scheint einen bestechenden Vorteil zu haben. Wir spüren die Begrenztheit unserer Wahrnehmung nicht. Stattdessen erfinden wir mit enormer Gewandtheit unsere ganz eigene Wirklichkeit und glauben, sie sei wahr.


Was bewegt eigentlich den Scheinwerfer unserer Aufmerksamkeit im Kopf?

Kommen wir zurück auf unseren Samstag-Vormittag-Einkaufsbummel, so erkennen wir, dass der Aufmerksamkeitsfokus einer jeden einzelnen Person, der wir begegnen, woanders liegt. Jede der Personen, erfindet eine andere Wirklichkeit. Und die manifestiert sich mithilfe ihrer Aufmerksamkeit und deren Interpretationen.

Hier einige Beispiele: Ihre Freundin sucht schicke Schuhe. In diesem Moment grenzt sie alles,  was nicht wie ein Schuh aussieht, aus ihrem bewussten Blickfeld aus. Ein junger Mann auf der Parkbank ist gerade verliebt. Vielleicht sieht er in der Form der Wolke, die über ihm am Himmel vorbei gleitet, das Antlitz seiner Liebsten. Eine etwas wirr dreinblickende Frau mit Schleier vor dem Gesicht vermutet einen Anschlag und blickt verunsichert und misstrauisch umher. Ein Zeuge Jehovas blickt durch die Augen des Jägers und fragt sich: „Wer könnte mein nächstes Opfer sein, dem ich meine Überzeugung verkaufen könnte?“

Die Beispiele machen sehr schnell klar, was unseren Aufmerksamkeits-Scheinwerfer bewegt.
Es ist der Hintergrund unserer Sehnsüchte, Ängste, Überzeugungen und Glaubenssätze. Es ist das, was wir im tiefsten Inneren von uns glauben, was wir uns wünschen, wovor wir uns ängstigen. Es ist unsere einzigartige geistig-mentale Grundstruktur. Sie ist durch emotionsgeladene Erfahrungen in unseren Zellen manifestiert  und bestimmt die Färbung unserer Wirklichkeit.

Denken Sie zurück an leidvolle Situationen in Ihrem Leben
Sie fühlten sich elend, allein gelassen und missverstanden. Hatten Sie da nicht oft den Eindruck, als hätten Sie keine Wahl? Als könnten Sie in diesem Moment nur so und nicht anders handeln? Das dachten Sie dann so lange, bis ein anderer kam und Ihnen einen neuen Teil der Wirklichkeit zeigte.

Und sicher waren Sie überrascht, schüttelten den Kopf über Ihre eigene Begrenztheit und waren unendlich froh, ihm und seiner völlig anderen Sichtweise auf das Leben begegnet zu sein.  Eine Sichtweise, die den Lichtstrahl der Aufmerksamkeit auf ganz andere Dinge lenkte und demnach auch zu völlig anderen Schlussfolgerungen gelangte als Sie selbst.

 

Das vorläufige Fazit lautet:

  • Wir nehmen Sekunde für Sekunde eine wahre Flut an Informationen auf –
    und zwar sowohl aus der Umgebung, als auch aus unserem Körper.
  • Unser Gehirn, mit seinem enormen Potenzial, wird spielend damit fertig.
  • Von all diesen Informationen erreicht nur eine winzige Menge unser Bewusstsein.
  • Das, was wir Wirklichkeit nennen, ist die Erkenntnis dessen, was der Strahl unserer Aufmerksamkeit mehr oder weniger zufällig einfängt.
  • Das meiste davon ist unsere Erfindung.

Freiheit gibt es wirklich

Welche Freiheit haben wir bei diesen Fakten?  Freiheit zeigt sich doch anscheinend darin, dass die Wege, die wir vermeintlich frei zu gehen glauben, vorher in unserem Nervensystem eingeprägt sind. Und hieße das: Wir können nur Wege im Leben gehen, die schon vorher in unserem Kopf – im Sinne von neuronalen Verbindungen – existierten?

Oder ist Freiheit genau diese Freiheit: Wir bahnen uns mutig neue Pfade, die wir bis jetzt noch nicht in Erwägung zogen. Wir schlagen mit der Machete einen Pfad durch den Dschungel dieses uner-forschten Kontinents und strukturieren ganz bewusst ins Unbekannte hinein. Wir werden langsamer und machen uns damit vertraut, unsere Aufmerksamkeit länger bei ein- und demselben Fokus zu halten.


Wie ging es eigentlich los?

Stellen wir uns folgendes vor:  Wir kommen auf die Welt wie ein unbeschriebenes Blatt. Und das ist wörtlich zu nehmen. In unserem Riesencomputer-  namens Gehirn – ist unermesslich großer Speicherplatz vorhanden, und er wartet  förmlich darauf, von uns beschrieben zu werden.

Im Alter von einem Jahr haben wir so viele Gehirnzellen wie nie wieder in unserem Leben. Kurz gesagt: Wir haben das Potenzial, alles zu erreichen, was wir wollen.  Aber mit einem Jahr wissen wir natürlich noch nicht, was wir wollen. Wir gehen unbefangen auf das Leben zu und machen unsere Erfahrungen: Dieses geht, und wir verfolgen es weiter. Jenes geht nicht, und wir unterlassen es.

Da wir nun durch und durch soziale Wesen sind, angewiesen auf die Gemeinschaft und deren Wohlwollen, ist es das soziale Umfeld, das uns im tiefsten Innern prägt. Beachtet zu sein und dazuzugehören sind die größten Triebfedern  unseres Handelns.

Paradoxerweise können wir das Potenzial unseres Gehirns nicht nur zum konstruktiven Aufbau unserer inneren Programme nutzen, sondern auch dazu, uns einzuschränken, zurückzuhalten

und unsere Lebensenergie zu drosseln. So als würde der Fahrer eines 300 PS Fahrzeugs = unser Potenzial, dieses Fahrzeug ständig mit nur 30 km/h = unsere Zurückhaltung, fahren. Wie kommt es dazu?

Nehmen wir ein Beispiel. Zwei Geschwister streiten sich. Das Ältere – sagen wir, es ist ein Junge -buhlt um die Aufmerksamkeit seiner Eltern. Sie – die Aufmerksamkeit – war schließlich vor der Geburt des Geschwisterchens immer ungeteilt für ihn da. Die Reaktion seiner Eltern macht ihm unmissverständlich klar, dass sein Verhalten unangemessen sei, und er ab sofort zurückstecken müsse.

Die Folge ist, der Junge bekommt die gewünschte Aufmerksamkeit nur noch selten oder überhaupt nicht. Die Zurückweisung seiner Eltern ist mit enorm viel Information geladen, die der kleine Mensch über seine Sinne unbewusst aufnimmt und verarbeitet. Die Worte gehen einher mit Untertönen, die Körperhaltung wird mit Blicken, Gestik, Mimik und einem ganz bestimmten Tonfall unterstrichen.
All das erlebt der kleine Junge und speichert diese Informationen unbewusst ab.


Die Rolle  des Körpers – Der Stopreflex

Was nun passiert, ist nicht kalkulierbar. Welche Pfade daraufhin im Gehirn des Kindes gebahnt werden, wie es darauf reagiert, was es in ihm auslöst, wie es sich weiter entwickelt, all das ist nicht vorauszusagen. Das werden die Entscheidungen zeigen, die das Kind in Zukunft von Augenblick zu Augenblick treffen wird. Aber eines ist klar: Das Schreiben eines Verhaltens-Programmes hat begonnen.

Nehmen wir Folgendes an: Das Kind beginnt, die Information der Eltern als frustrierendes Gefühl zu interpretieren: „Ich habe etwas Falsches getan.“ Damit einher geht Traurigkeit: „Meine Eltern haben meine Schwester viel lieber als mich.“ Dazu kommen vermutlich noch Scham, Schuld und der Wunsch nach Zugehörigkeit. Daraufhin tut sein Körper alles, um diese Reaktionen in einen angemessenen Ausdruck zu gießen.

Der Arzt und Körpertherapeut  Thomas Hanna nennt dieses Verhalten den Stop-Reflex. Er ist die archaische Reaktion unseres Körpers auf Schmerz oder die Erwartung desselben. Am besten lässt sich die Vielzahl dieser hemmenden Rückzug-Reaktionen anhand eines Beispiels erläutern.

Stellen Sie sich vor, Sie gehen auf der Straße. Plötzlich knallt es sehr laut neben Ihnen. Laut Hanna passiert nun folgendes.

  • Als erstes reagiert Ihr Atem, das freie Fließen wird unterbrochen.
  • In Bruchteilen von Sekunden fangen Ihre Kiefermuskeln an, sich zusammenzuziehen.
  • Unmittelbar danach erfolgt ein Zusammenziehen der Augen und Stirn.
  • Noch kurz bevor die Augen ganz zusammengekniffen sind, erhalten Ihre Schulter- und Nackenmuskulatur einen Nervenimpuls zum Zusammenziehen. Und Sie bringen Ihren
    Kopf nach vorne.
  • In rasender Schnelligkeit beugen sich Ihre Ellbogen und Ihre Händedrehen sich mit den Handflächen nach unten.
  • Diese absteigenden Nervenimpulse spannen Ihre Bauchmuskeln weiter an. Dadurch bringen Sie Ihren Rumpf nach vorne gebracht und ziehen Ihren Brustkorb nach unten.
  • Sie halten Sie Ihre Atmung nun ganz an.
  • Sofort danach beugen sich Ihre Knie, und Sie rollen die Füße und Fußgelenke nach innen.
  • Die Muskeln im Schritt verengen sich und Sie heben die Zehen heben an.
  • Und Sie fühlen sich genauso verängstigt, wie Ihr komplett verspannter Körper sich anfühlt.

Erst wenn Sie glauben, dass die vermeintliche Gefahr vorbei ist, bewegen Sie sich weiter, die Anspannungen verschwinden mehr oder weniger und Sie entspannen sich.

Interessanterweise treten die oben genannten Reaktionen im gleichen Maße auf, wenn sich – wie in unserem Beispiel – ein kleiner Mensch nicht beachtet und willkommen geheißen fühlt. Was also geschieht, wenn im Laufe der Erziehung immer wieder Situationen entstehen, in denen der Junge beschließt, den Stop-Reflex zu aktivieren.

Verstärkend kommt hinzu, dass das Kind spürt, dass es durch seine Zurückhaltung  das Wohlwollen seiner Eltern zurück gewinnt, er gehört wieder dazu. Zurückhaltung wird im entsprechenden neuronalen Netzwerk als positiv  abgespeichert.

Es ist abzusehen, dass sich der Knabe ein Programm ins Nervensystem schreiben wird,  das genau diese Rückzugs-Bewegungen in seinem Körper verankern wird. Und im Laufe der Jahre werden sich diese körperlichen Symptome unmerklich in seinem Körper einnisten. Findet der Junge kein Ventil, bleibt die Schutzspannung bestehen und verhindert – in bestimmten Situationen die Wahl seiner freien Entscheidungen. Das bedeutet: Seine Freiheit geht aufgrund innerlich verankerter Verhaltensprogramme verloren. Ein Teil seines Charakters hat sich nicht nur geformt, sondern wird ihn in Zukunft entsprechend einengen.


Die Polarität

Kommen wir zurück zur Lebensbühne. Auf unserer Lebensbühne gibt es viele verschiedene Ichs, wir können sie auch Charakterdarsteller nennen, die je nach Situation und Person ein bestimmtes Verhalten von uns zeigen. Der Knabe in unserem Beispiel lässt wieder und wieder den „Zurückgezogenen“ auf seiner Lebensbühne auftreten.

Das ist eine Rolle, die von ihm Anpassungsfähigkeit erfordert und die Fähigkeit seine Bedürfnisse hinten anzustellen. Weiterhin muss er sich zusammenreißen, abwarten und Geduld üben können. „Schöne Qualitäten“, findet wohl auch unser Knabe. Er lernt sehr schnell: Es sind Eigenschaften, die in unserer Gesellschaft – will man einen gewissen gesellschaftlichen Status erreichen – sehr geschätzt werden.

Problematisch wird es erst, wenn das innere Ich, der den Gegenpart dieses Verhaltens repräsentiert,  kaum noch auf der Lebensbühne erscheint. Diesen Gegenpart mit seiner polaren Position könnte man folgendermaßen beschreiben: Er ist der Offensive, der für die Erfüllung seiner Bedürfnisse eintritt. Er ist der offensive Kämpfer, der nichts zurückhält. Jemand, der seine Klappe nicht halten kann, sich unbeliebt macht und unbequem ist.

Was passiert nun mit dem Darsteller, der diese Rolle verkörpert?  Der zwar auf die Bühne will, aber nicht darf? Er steht abseits im dunklen Bühnen Hintergrund. Er wartet vergebens auf seinen Einsatz, der nicht stattfindet, weil der ‚Zurückhaltende‘ mal wieder die Bühne dominiert. Irgendwann verliert dieser Darsteller seine Präsenz. Und da er nicht mehr offiziell im Scheinwerferlicht mitspielen darf, spielt er eben im Dunklen weiter.

Und das tut er mit enormer Kraft und Brillanz. Er gründet seine eigene Truppe und macht einen „Nebenschauplatz“ auf. Und hier passieren Dinge, die dem offiziellen Spiel oftmals zuwiderlaufen.
In der therapeutischen Realität würde man dies als psychosomatisches Problem oder als Verhaltens-auffälligkeit erkennen. Der Tiefenpsychologe C.G. Jung nannte diesen Anteil der Seele eines Menschen treffender-weise „Schatten“.


Der Körper – Spiegel der Seele

An dieser Stelle noch eine Einladung zu einem Experiment:
Sie betrachten das Profil Ihres Körpers im Spiegel. Sie fokussieren sich auf Ihre Schulterblätter.
Ihnen fällt auf, dass sie abstehen wie Flügel. Ihr Kopf ist vorgeschoben wie bei einem Vogel, Ihr unterer Rücken hat eine Hohlkreuzhaltung, und Sie haben einen Bauchansatz, obwohl Sie ansonsten ganz schlank sind. Da fehlt Spannung (wohl gemerkt keine Anspannung) und die richtige Körper-haltung. Aus diesen Beobachtungen  könnten sich folgende Fragen ergeben: „Wie würde ich mich fühlen, mich äußern und leben, wenn diese Spannung da wäre? Was würde ich mit einer anderen Haltung meiner Umwelt signalisieren? Wie würden meine Mitmenschen dann auf mich reagieren? Und wie wiederum würde ich daraufhin reagieren? In welche Richtung würde sich mein Leben verändern?“

Doch hier zeigt sich ein Hoffnungsschimmer. Sie haben die Möglichkeit zu entscheiden – und glücklicherweise auch noch lange, nachdem ein Programm festgeschrieben ist und der Organismus seit Jahren entsprechend fühlt, denkt und sich verhält. Das aber gelingt nur, wenn Sie sich Ihres Verhaltens bewusst werden. Und das verlangt Verlangsamung in Verbindung mit achtsamem Fühlen.

 

So fühlt sich Leben im Flow an

Wieder kommen wir zurück zu den Sinnen. Die Sinne sind ja gewissermaßen die Brücke zwischen Software und Hardware, zwischen Programm und Ausführendem, zwischen neuronaler Verschaltung und körperlichem Spannungsgefüge.

Wir möchten in diesem Zusammenhang kurz auf den Begriff des Flow näher eingehen. Ein Begriff, den der Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi Mitte der 1970er Jahre prägte. Der amerikanische Wissenschaftler ging davon aus, dass Flow ein Glückserleben ist, das zentral mit dem Gebrauch einer speziellen psychischen Energie, der Aufmerksamkeit, zu tun hat. Sind wir in der Lage, unsere Aufmerksamkeit lange genug auf einen Vorgang zu fokussieren, kann es zum „Flow-Erleben“ kommen, einem Zustand erhöhter Wahrnehmung und gesteigerten Lebensgefühls.

Besonders leicht nachvollziehbar sind Flow-Zustände im Tanz, im Spiel und im Sport. Aber auch im Hören einer Symphonie können wir ganz in den Klängen aufgehen, wir können uns beim Betrachten eines Bildes meditativ versenken und den Flow eines guten Gesprächs genießen. Was all diese Erlebnisse qualitativ miteinander verbindet, ist die vollkommene Präsenz im Augenblick. Alle Sinne sind hellwach und die Atmosphäre knistert vor Kreativität. In solchen Momenten glauben wir, dass alles möglich sei. Es ist, als sei der Mensch mit seinem Körper und Geist, seinem Herzen und allen Sinnen im vollkommenen Einklang mit etwas Höherem, das ihn lenkt und beflügelt. Diese Art von Erleben erlaubt es ihm, über die inneren, unbewussten Verhaltensprogramme hinauszugehen – in einen Raum freier Entscheidungsmöglichkeiten.

Flow Erleben in der Entspannung

Natürlich kann man auch in einer Atmosphäre des Loslassens und Entspannens in den Flow geraten. Doch das ist eine Sondersituation, denn der Fokus der Aufmerksamkeit muss auf etwas gerichtet sein, das gleichzeitig Konzentration und Entspannung ist. Gewissermaßen sammeln wir uns im ‚Flow der Entspannung‘ auf die Nicht-Sammlung. Ein Phänomen, das man sofort nachvollziehen kann, wenn man sich vorstellt, sich entspannen zu müssen. Das gelingt in dem Moment, wo wir es schaffen, die Informationen aus dem Körper ebenso bewusst wahrzunehmen, wie die Informationen, die uns aus der Umwelt erreichen. Dann sind wir in innerer und äußerer Balance.

Zum Schluss laden wir Sie zu einem genussvollen Experiment ein, um das Flow-Erleben in der Entspannung zu steigern:

  • Tragen Sie eine dem Wetter angemessene Kleidung und gehen Sie nach draußen.
  • Stellen Sie sich darauf ein, dass Sie circa eine halbe Stunde walken werden.
  • Achten Sie darauf, dass Sie sich nicht überfordern. Sie dürfen sich angeregt, aber nicht angestrengt fühlen.
  • Nachdem Sie Ihren Lauf beendet haben, setzen Sie sich an einen Ort, an dem Sie ungestört sein können. Setzen Sie sich aufrecht hin.
  • Wenn Sie sich zentriert fühlen, schließen Sie Ihre Augen.
  • Richten Sie Ihre entspannte Aufmerksamkeit jetzt auf die Empfindungen in Ihrem Körper.
    Sie spüren beispielweise Ihre Sitzbeinhöcker auf der Unterlage, das Heben und Senken Ihres Brustkorbs beim Atmen, die feinen Bewegungen in Ihrer Wirbelsäule, leichtes Gurgeln im Bauch und so weiter.
  • Ohne den Fokus von Ihrem Körper wegzunehmen, lassen Sie sich frische Luft atmen.
  • Öffnen Sie Ihren Hör Sinn und nehmen Sie wahr, welche Geräusche da sind.
  • Spüren Sie als nächstes die Brise auf Ihrer Haut.
    Nehmen Sie wahr, wie der Wind mit Ihrem Gesicht spielt.
  • Und wenn es Ihre Aufmerksamkeit zulässt, lassen Sie Gerüche zu.
  • Bleiben Sie mehrere Atemzüge lang im Wohlbefinden dieser Sinneswahrnehmungen.
  • Dann öffnen Sie Ihre Augen. Entspannt schauen Sie sich um.
    Was alles fällt auf Ihre Netzhaut?
  • Stellen Sie sich nun auch den Filter vor, der genau die richtige Anzahl von Bits zu Ihrem Gehirn vordringen lässt.
  • Lassen Sie diesen Filter ganz weit sein.
    Genießen Sie die Flut an Reizen, die Sie erreicht.
  • Als letztes sind Sie sich der Situation bewusst, in der Sie sich befinden.
    Schauen Sie sich bei dem zu, was Sie gerade tun.
    Und schauen Sie sich zu, wie Sie sich dabei gerade selbst zuschauen.
    Wenn ein Gedanke kommen mag, lassen Sie ihn da sein und dann weiterziehen.
    Bleiben Sie eine lange Weile in diesem köstlichen Schwebezustand des Seins.

Machen Sie diese Gegenwartsübung öfters, transzendieren Sie Ihren Alltag. Sie erkennen,
wer Sie wirklich sind. Und Sie sagen sich: „Ich bin die, die ich bin“, „Ich bin der, der ich bin.“
Und indem Sie das wissen, sind Sie ganz Mensch.

 

Wolfram & Ricarda Geiszler                                                                      Bayreuth, im August 2014