TAO Touch Newsletter April 2011

 Empathie heißt den Standpunkts wechseln können

Kennst du das Phänomen? Nachdem du 10 Jahre lang jeden Morgen deinen gewohnten Weg zur Arbeit gefahren bist, kommst du vielleicht heute mal von einer ganz anderen Richtung an die altbekannte Kreuzung ran. Und die sieht auf einmal ganz anders aus; du hast plötzlich nicht mehr
die Vorfahrt und du siehst die Kreuzung so, wie du sie noch nie gesehen hast.

Die Verlegung des Standpunkts mag auch Neil Armstrong beeindruckt haben, als er im Jahre 1969 bei seiner ersten Reise mit Apollo 11 die Erde aus der Perspektive des Mondes sah. Seine Sicht auf den „blauen Planeten“ war mit einem Male von Ehrfurcht und Dankbarkeit geprägt. Er fühlte die Schönheit und Verletzlichkeit der Schöpfung.

So mancher mag sich auch noch an das brisante Buch „Ganz unten“,  von Günter Wallraff erinnern. Wallraff begab sich incognito – als Türke Ali  verkleidet– ganz nach unten auf der gesellschaftlichen Leiter. Zu Hungerlöhnen übernahm er Drecksarbeiten, die keiner machen wollte und schuftete unter schwierigsten Bedingungen. Sein Roman, 1985 erschienen, ist ein erschütterndes Zeit-Zeugnis sozialer Realität in Deutschland geworden.

Auch in der therapeutischen Arbeit mit Menschen ist das Phänomen des Standpunktwechsels bekannt – und zwar unter der Bezeichnung ‚Empathie‘. Die alten chinesischen Ärzte maßen dieser Fähigkeit höchste Bedeutung bei – und zwar im gleichen Maße wie dem Fachwissen. Empathie ist ein Mitfühlen-Können, ohne mit dem anderen Menschen zu verschmelzen oder sich gar selbst aufzugeben.

Sicher: Zum Wechsel des physischen Standpunkts braucht man Beine. Um aber den inneren Stand-punkt zu verändern, braucht man Offenheit, Neugierde und eine gewisse Risikobereitschaft. Die ging den westlichen Therapeuten lange Zeit ab. In medizinisch oder psychotherapeutisch ausgerichteten Kreisen war es im 20. Jh. geradezu verpönt, sich gefühlsmäßig zu sehr auf seine Patienten einzulassen. Wen wundert es, dass da wenig Heilsames passieren konnte . . .

Vielleicht mag sich einer nach langen Ehejahren schon gefragt haben, wie er wohl die Welt aus den Augen seines Partners sähe. Das könnte doch eine belebende Lebens- und Liebesaufgabe für Ehe-gemeinschaften sein, meint Ihr nicht auch? Das hieße im Dialog zu bleiben und dem andern unermüdlich die eigene Sicht der Dinge verständlich zu machen. Ja, mit Sicherheit anstrengend, aber  gleichzeitig der Aufbruch zu einem großen Abenteuer.

Angesichts der schlimmen Katastrophe in Japan  – die Medien sparen ja nicht mit Bildern des Schreckens – stellt sich uns tatsächlich die Frage, inwieweit wir uns einlassen können und wollen, wenn wir Empathie mit Japan üben!? Einerseits bricht etwas Bedrohliches in unser so sicher geglaubtes Leben ein, und die Kontrolle droht  zu schwinden. Andererseits haben wir die Chance zu sehen, wie kostbar das Leben ist, und wir können begreifen, wie sehr wir ein Teil des Ganzen sind.

Wir persönlich haben keinen Fernseher, uns bleiben die Bilder erspart. Dennoch versuchen wir, empathisch mit den Menschen in Japan zu fühlen. Vielleicht ist das auch das einzige, das wir tun können, damit das Bewusstsein wächst und wir die wichtigste Frage unserer Zeit beantworten können: Wie wollen wir mit unserem schönen blauen Planeten in Zukunft umgehen?

Ricarda & Wolfram Geiszler

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