TAO Touch Newsletter September 2012

 

Wachstumsglaube, Sport & Suchtpotenzial

Hast du auch so einen ‚Typen‘ in Deinem Bekanntenkreis?
Mitte 40, unauffällig, alleinstehend, Freiberufler?
Jeden Morgen und jeden Abend springt er in seine Laufschuhe, ein gelbes Trikot für das Marathon Training, ein blaues für die 180-km-Radstrecke und die Stöpsel des MP3 Players in den Ohren, um die Signale des Körpers nicht hören zu müssen.
‚Unser Sportler‘ hat im Laufe seines Trainings seine Seelenruhe verloren.
Es treibt ihn ständig raus auf die Straße oder in den Wald – gequält von einer inneren Stimme, die ihm einflüstert, dass er heute noch nicht genug trainiert hat. Und aus der Freude an der Bewegung ist unversehens eine Sucht geworden, die – wie jede Sucht – nicht mehr kontrollierbar ist.
Dabei hatte alles so schön angefangen! Mit dem Sport ging es unserem Mann sehr gut.
● Er bekam besser Luft.
● Er spürte, dass er noch nicht zum alten Eisen gehörte.
● Er war bei der Arbeit besser drauf.
● Er hatte es endlich geschafft, mit dem Rauchen aufzuhören.
● Und das beste an allem: Ihm wurde jede Menge soziale Anerkennung zuteil. Der Satz: „Ich trainiere jetzt auf den Marathon!“ ließ jeden Gesprächspartner sofort bewundernd in die Knie gehen.

 

Üben & Trainieren – der große Unterschied

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Sport ist zum Symbol unserer Leistungsgesellschaft geworden, für das Schneller-Weiter-Höher unseres Wachstumsglaubens. Doch wie die Wirtschaft mit ihrem überzogenen Wachstumswahn an ihre Grenzen gestoßen ist, so ähnlich verhält es sich auch mit unserem Bewegungsverhalten. Deshalb widmet sich unser September Newsletter dem Plädoyer für ein Phänomen, das etwas aus der Mode gekommen ist: Mit dem Üben.

Beim „Üben“ geht es um den Genuss an Qualität.

Beim „Trainieren“ geht es um die Gier nach dem Immer-Mehr.
Uns ist die wichtige Unterscheidung der beiden Begriffe „Trainieren“ und „Üben“ zum ersten Mal im Sportstudium begegnet. Ein engagierter Dozent hatte uns Sportversessene mit dieser Aufgabe konfrontiert. Er wollte unsere Aufmerksamkeit in neue Denk-Bahnen lenken. Dabei erkannten wir, etwas Wesentliches:

Trainieren ist ein Wiederholen von Fertigkeiten, die man bereits kann.
Es dient der Steigerung von Leistung.
Also ist Trainieren ein Automatisierungsprozess im Bewegungsverhalten.
Üben ist eine Aneignung von Bewegungsvokabular, das noch nicht beherrscht wird.
Es geht um Verfeinerung, Differenzierung und Leichtigkeit im Bewegungsverhalten.
Der wesentliche Unterschied ist die innere Präsenz.
Um etwas zu lernen und es zu durchdringen, braucht es unsere ungeteilte innere Beteiligung.
Es ist eine Fähigkeit, die uns als ganzen Menschen anspricht. Eine Fähigkeit, die nicht nur einen Übungsprozess begleitet, sondern in unserer Wahrnehmung, unserem Ausdruck und in unserem Handeln mitschwingt. Auf diese Weise wird die innere Beteiligung im Laufe der Zeit zu einer wertvollen Begleiterin, mit der wir unser gesamtes Leben reicher und lebendiger gestalten können.

 

Sich seiner selbst bewusst werden

Später erfuhren wir, dass es eine große Tradition des Übens gibt.
Die großen asiatischen Künste leben es uns vor.
Sie sprechen vom „Weg der Meisterschaft“, der immer Hand in Hand mit dem Üben geht.

Und schon ist das Dilemma da, denn die Einmischung des Geistes kann zunächst einmal unsere Körperprozesse stören. Man denke nur an die Anweisung: „ Bewege dich ganz natürlich.“ Jeder weiß, dass es sich dann ganz ähnlich verhält, wie bei der Anweisung: „Denke nicht an einen rosa Elefanten!“ Auch die Aussage des großen Bewegungslehrers Moshe Feldenkrais passt in diesen Zusammenhang: „Frage einen Tausendfüßler, in welcher Reihenfolge er seine Beine setzt, und er wird sofort unfähig sein weiterzugehen.“ Noch auffälliger ist es beim Atmen. Die einfach erscheinende Anweisung: „Beobachte deinen Atem und beeinflusse ihn dabei nicht!“ erweist sich als nahezu unlösbar.

Warum also üben?
Wäre es nicht viel leichter, darauf zu verzichten? Dem Körper glücklich seinen Lauf zu lassen und sich seiner – unbewussten – Gesundheit zu erfreuen? Zum Teufel mit dieser Bewusstheit! Ja, natürlich wäre das leichter. Aber wir würden unserem Ziel, uns unserer selbst bewusst zu werden, nicht näher kommen. Doch es gibt einen Ausweg . . . .

Die Lösung ist im Prozess des Übens selbst begründet

Es ist das große Geheimnis der Meister, dass irgendwann Körper und Geist zusammenfinden können. Ähnlich wie bei Ehepartnern, die nach vielen Jahren des Mit- und Gegeneinanders endlich erkennen, was sie am jeweils anderen haben. Und wir merken es sofort, wenn sich das Geheimnis einstellt:

● Bewusstes Tun und unbewusstes Sein werden ununterscheidbar.
● Körper und Geist verschmelzen zu einer Einheit.
● Und wir wissen genau, dass alles so sein muss und nicht anders.
● Es ist die intuitive Gewissheit, dass es so stimmig ist.
● Und wir sind für einen glückseligen Augenblick genau in der Mitte dieses Wissens.

 

Die alten Daoisten sprachen in solchen Momenten von der Umarmung des TAO, die Schamanen unserer Zeit von der Geburt der Intuition.

Einen sonnigen, farbenprächtigen, lichtdurchfluteten Spätsommer wünschen wir all unseren Lesern!

Wolfram & Ricarda Geiszler